DOCTORAL THESIS

 

S. Ylönen, 2001. Entwicklung von Textsortenkonventionen am Beispiel von 'Originalarbeiten' der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW). Leipziger Fachsprachen-Studien Vol. 15, Frankfurt am Main: Peter Lang, 316 S.
ISBN 978-3-631-37744-4

Parallelpublikation in JYX

Abstract: English | Deutsch

Rezension

 

 

 

 

The Evolution of Genre Conventions: A Study of Original Contributions to the Deutsche Medizinische Wochenschrift

 

The ability to produce academic texts is one of the most important skills to be acquired by university students, whether in their mother tongue or in a foreign language. In the training of this skill, teachers of academic writing often make use of templates of language common to highly standardized scientific reports of experimental research. However, as this study aims to show, scientific writing is not just an exercise in reporting objective facts in a schematized way but a paradigm-bound activity and part of the research process itself. In consequence, the acquisition of genre competence in writing academic texts will be facilitated by an understanding of social practice in the science concerned. From the perspective of the teaching of German as a foreign language, the interdependency between a paradigm and the language of science was analysed in a diachronic study of German medical research reports known as "original contributions". These represent the most important source of information for a particular scientific research community. Medical articles were chosen because they are still published in German; in other scientific fields English is the dominant language. Furthermore, because of journal-specific instructions given to authors, the articles were selected from one journal only.

In a corpus of 80 original contributions to the "Deutsche Medizinische Wochenschrift" from 1884 - 1999, extralinguistic, textual, and linguistic-stylistic features of text were examined. It was observed that, while in the past scientific articles were written in a more individual style, recent reports are highly standardized. The process of text pattern development started after World War II and has continued until now at an ever-increasing pace. It accompanies a paradigmatic shift from a more qualitative and patient-oriented approach to more quantitative and disease-focused medical research. For example, while the authors of earlier articles expressed their sympathy with patients, nowadays patients are numbers in a group tested in prospective studies. The journal developed from a platform for the exchange of experience among colleagues into a more anonymous and "objective" medium with reports based on statistical research methods. The effect on the text of the journal has been, for example, the development of the standardized IMRAD pattern (Introduction, Methods, Results And Discussion) and an increase in the amount of non-linguistic textual constituents, such as tables, graphs and pictures. These developments have been accompanied by such linguistic changes as an increasingly impersonal style and the use of more exact terms and expressions. Hedges, however, continue to be a constitutive part of scientific writing, although the form of hedge used may now vary. Older articles are easily comprehensible because of their more chronological reporting style and many detailed examples of individual cases, which enable the reader to follow the study almost from the perspective of an eye-witness. In recent articles, the research process is summarised and decontextualised in order to fit the IMRAD text pattern, demanding more subject knowledge on the part of the reader, who must also trust that details of the study have been summarised correctly.

Besides strict editorial instructions, the reasons for the developments mentioned are, above all, the increasing commercialization of science along Anglo-American lines, but also technical innovations, such as the use of computers and medical instruments for diagnosis and therapy, enabling researchers to draw on a greater number of extensive material sources in more exact studies. The form and content of scientific original contributions constitute a unity, and paradigm conformity to this unity is a condition for authors. It remains to be seen how academic writing in the field of medical science will develop given the tension between the focus on commerce and technology on the one hand and the individual patient on the other.

Key words: academic writing, genre conventions, paradigm, German for Medical Purposes


 

Entwicklung von Textsortenkonventionen am Beispiel von Originalarbeiten der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW)

Das Schreiben wissenschaftlicher Texte gehört sowohl in der Mutter- als auch in der Fremdsprache zu den wichtigsten Fertigkeiten, die Universitätsstudenten erwerben müssen. Im Sprachenunterricht werden dazu häufig Muster trainiert, die typisch für hochstandardisierte Berichte experimenteller Forschungsarbeiten sind. Ziel vorliegender Arbeit war es zu zeigen, daß wissenschaftliches Schreiben auch in den Naturwissenschaften nicht auf Berichten objektiver Fakten in schematisierter Form reduziert werden darf, sondern eine paradigmaabhängige, in Denkkollektive eingebundene Aktivität und Bestandteil des Forschungsprozesses selbst ist. Für den Erwerb von Textsortenkompetenz reicht das Lernen spezifischer Sprachschablonen deshalb sicher nicht aus, sondern die Textsortenkompetenz wird umso größer sein, je besser das Verständnis der jeweiligen sozialen Praxis ist. Aus der Perspektive des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts wurde die Interdependenz von Paradigma und wissenschaftlichem Schreiben in einer diachronen Studie untersucht. Da Forschungsberichte die heute geachtetste wissenschaftliche Publikationsform darstellen und die Medizin ein Bereich ist, in dem auch heute noch Artikel auf deutsch publiziert werden, wurden für die Entwicklung wissenschaftlicher Textsortenkonventionen medizinische ‘Originalarbeiten' gewählt. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf eine Zeitschrift, die Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW), weil die Hinweise zur Abfassung von Forschungsberichten heute zeitschriftenspezifisch sind und sie eine der ältesten deutschen Zeitschriften für naturwissenschaftliche Allgemeinmedizin ist.

An einem Korpus von 80 Originalien der DMW von 1884-1999 wurden außersprachliche, textuelle und sprachlich-stilistische Aspekte der Texte untersucht. Während den Autoren älterer wissenschaftlicher Artikel individuellere Freiheiten hinsichtlich Textgestaltung und Stil zur Verfügung standen, sind heutige Artikel stark schematisiert. Der Prozeß der Musterbildung setzte nach dem 2. Weltkrieg ein und vollzieht sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Er ging einher mit paradigmatischen Änderungen von eher qualitativer und den Kranken berücksichtigenden zu stärker quantitativen und auf die Krankheit fokussierten medizinischen Forschung. Wurde Patienten gegenüber früher ärztliches Mitgefühl ausgedrückt, so werden sie heute als Zahlen einer Gruppe in prospektiven Studien getestet. Die Zeitschrift entwickelte sich von einem Forum zum Austausch von Erfahrungen unter Kollegen zu einem anonymeren, mit statistischen Methoden arbeitenden und somit stärker nach Objektivität strebenden Medium. Resultate auf Textebene waren die Entwicklung des IMRAD-Schemas (Introduction, Methods, Results And Dicussion) und die Zunahme nichtsprachlichler Textteile (besonders Abbildungen). Diese Entwicklungen gingen einher mit zunehmend unpersönlichen und exakteren Ausdrücken auf sprachlich-stilistischer Ebene. Signale für Unsicherheit (Hedges) scheinen dagegen zu allen Zeiten konstitutiver Bestandteil wissenschaftlichen Schreibens zu sein, wenngleich sich die jeweils bevorzugten Formen ändern mögen. Ältere Artikel sind in der Regel leichter verständlich, da die chronologische und mit vielen anschaulichen Beispielen individueller Fälle ausgeschmückte Berichterstattung es den Lesern ermöglicht, die Studien beinahe aus der Perspektive eines Augenzeugen nachzuvollziehen. In neueren Artikeln werden die Untersuchungen dagegen, um in das IMRAD-Schema zu passen, in stark zusammengefaßter und dekontextualisierter Weise dargestellt. Diese Darstellungsweise verlangt größeres Sachwissen vom Leser, der sich zudem darauf verlassen muß, daß die Einzelergebnisse von den Autoren korrekt zusammengefaßt wurden.

Ursache für diese Entwicklung sind neben der Einführung immer strengerer redaktioneller Vorschriften vor allem die zunehmende Kommerzialisierung der Wissenschaft unter anglo-amerikanischer Orientierung und technische Innovationen, wie der Einsatz von Computern und medizinischen Geräten für Diagnose und Therapie. Sie ermöglichen die Untersuchung und Auswertung großer Patientengruppen bzw. Daten in zunehmend exakter Weise. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Wissenschaftssprache in der Medizin im Spannungsfeld zwischen Kommerz und Technik auf der einen und dem Menschen auf der anderen Seite entwickelt.

Schlüsselwörter: wissenschaftliches Schreiben, Textsortenkonventionen, Paradigma, Fachsprache Medizin


Rezension: Erschienen in Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. Band 43 (2002), Heft 3/4, S. 645

Die Untersuchung (zugl. Univ. Jyväskylä, Diss., 1999) ist ein Beitrag zur Geschichte der wissenschaftlichen Textsorten. Im Zentrum steht die mehrschichtige Analyse eines Textkorpus, das aus der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW) (gegr. 1875) entlehnt wurde. Zur pragmatischen und wissenschaftsgeschichtlichen Fundierung der Untersuchung holt die Verf. bewußt (66) sehr weit aus (z. B. Kap. 2.1. „Was ist Wissenschaft?“). Detaillierteres Profil gewinnt die Arbeit in der teilweise tabellarisch-statistisch untermauerten Analyse ausgewählter sog. „Originalarbeiten“ der DMW, die zwischen 1884 und 1999 erschienen. Die Quellen werden im Blick auf außersprachliche, textorganisatorische und sprachlich-stilistische Elemente miteinander verglichen (160f.). Daraus resultieren Ergebnisse, die bekannte Topoi der Wissenschaftssprachforschung mit bisher nicht gekannter Präzision erhärten. So kann nun etwa in verschiedenen Dimensionen klarer gesehen werden, inwiefern ältere Wissenschaftstexte „persönlicher“ sind als moderne (183ff., 245ff.). Ein substanzieller Fortschritt wird auch dadurch erreicht, daß die gesteigerte „Objektivität und Exaktheit“ moderner Wissenschaftstexte mit sinnvoll definierten Kriterien vor Augen geführt wird (259ff.). Zudem wird ersichtlich, worin die zunehmende Stardardisierung der Aufsätze wurzelt: redaktionelle Eingriffe in die Texte und Richtlinien zur Abfassung der Manuskripte sind erst neueren Datums (229ff.). Ob die festgestellten Charakteristika repräsentativ für die „Entwicklung des naturwissenschaftlichen Paradigmas“ (287) generell sind, wäre in weiteren Studien zu klären.

Wolf Peter Klein, Berlin (seit 2009 Würzburg)

 
[Sabine Ylönen] - [SOLKI] - [Uni Jyväskylä]