The
Eurasian Politician
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The Eurasian Politician - Issue 4 (August 2001)

"Freiheit und Gerechtigkeit im Licht der Würde des Menschen"

Vortrag von Stephan Baier
beim Symposion der Internationalen Paneuropa-Union
am 7. und 8. Juni 2001 in Zagreb

Das Streben nach Freiheit und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit gehören zu den Grundzügen des Menschen und haben im abendländisch-europäischen Raum ihre besondere Geschichte. Richard Coudenhove-Kalergi meinte sogar: "Die Geschichte des Abendlandes ist die Geschichte des menschlichen Ringens um persönliche Freiheit." Die geistesgeschichtlichen Grundlagen für das gleichzeitige Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit waren auf unserem Erdteil dieselben wie für die Identität Europas überhaupt, nämlich die an der menschlichen Person orientierte hellenistische Philosophie, das am Recht des einzelnen und am Wohl der Gemeinschaft orientierte römische Rechtsdenken und schließlich der christliche Glaube, denn "das Evangelium Jesu Christi ist eine Botschaft der Freiheit und eine Kraft der Befreiung".

In der Neuzeit haben beide Sehnsüchte große politische Bewegungen hervorgebracht, die sich leicht als Gegensatz interpretieren ließen und in der politischen Wirklichkeit auch mitunter in einen Gegensatz gerieten: Liberalismus und Sozialismus. Es ist nun weder die Aufgabe meines kurzen Vortrages noch sein Ziel, zu untersuchen, ob Liberalismus und Sozialismus tatsächlich in einem Widerspruch zueinander stehen oder sich komplementär ergänzen. Die Frage ist vielmehr, in welcher Beziehung Freiheit und Gerechtigkeit zur Würde der menschlichen Person stehen, und wie sie sich zum Wohl – und nicht zum Schaden des Menschen – politisch in Harmonie bringen lassen. Dass davon im 20. Jahrhundert keine Rede sein konnte, ist offensichtlich: Obwohl die vermeintlich modernen Ideologien des Sozialismus, des Liberalismus und des Nationalismus hier den Gipfel ihrer Wirkung und Macht erreichten, war das zu Ende gegangene Jahrhundert zugleich das Zeitalter der großen Menschenrechts-Proklamationen und der Völkermorde, der erklärten Selbstverwirklichung und der Konzentrationslager, der Friedensbewegungen und der Weltkriege. In keinem Jahrhundert wurde im Namen des Fortschritts, der Gleichheit und der Brüderlichkeit mehr gemordet als in diesem.

Die drei großen Ideologien, die im 18. Jahrhundert ihre Geburtsstunde hatten, im 19. Jahrhundert ihre Ausformulierung erfuhren und im 20. Jahrhundert von der Theorie in die Praxis umgesetzt wurden, bedürfen heute einer kritischen Reflexion, damit die Fehler der Vergangenheit nicht auch die Zukunft Europas vergiften.

  1. Der Nationalismus präsentiert sich in seiner modernen Form erstmals in der Französischen Revolution, in der die monarchische Einheit durch die nationale ersetzt wird. Er setzt also an die Stelle der Person des Herrschers – dessen personale Verantwortung im geglückten Fall mit der personalen Loyalität seiner Untertanen korrespondiert – ein Abstraktum: die Nation als mythische Überhöhung der eigenen Sprach- oder Blutsgemeinschaft. Freiheit und Gerechtigkeit werden in diesem Kontext nicht mehr als Freiheit und Gerechtigkeit für die menschliche Person, sondern als Befreiung und Recht der eigenen Nation interpretiert. Das Habsburger-Reich wurde in dieser Situation logischerweise als Anachronismus empfunden, weil hier ein personales Verhältnis – das des Kaisers zu allen seinen Anvertrauten – dem nationalen übergeordnet war und es in die Schranken wies. Während sich die Nationalstaaten einzig aufgrund der Nation und ihrer Interessen gerechtfertigt sahen, bedurfte die personale Autorität des Kaisers einer höheren (und ebenfalls personalen) Verankerung, nämlich der Rechtfertigung durch Gott. In einer literarischen Form hat dies der große galizische Schriftsteller Joseph Roth ausgedrückt. Er läßt seinen Romanhelden am Vorabend des Ersten Weltkrieges sagen: "Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirchen. Sie gehen in nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, dass Gott die Habsburger erwählt hat, über so und so viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist seine K.u.K. Apostolische Majestät, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verlässt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen.". Aus der Tragödie des Ersten Weltkriegs entstand bei dem jungen Grafen Coudenhove-Kalergi die Idee zur Überwindung des Nationalismus durch die Vereinigung Europas. Der Paneuropa-Gründer war davon überzeugt, dass sich Freiheit und Gerechtigkeit für jeden einzelnen Europäer, aber auch für die von ihm nie geleugneten oder in Frage gestellten europäischen Nationen jenseits der nationalstaatlichen Ordnung in einem geeinten Paneuropa besser verwirklichen ließen. Es hätte Coudenhove-Kalergis Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit zutiefst verletzt, die Nationen zu einem europäischen Einheitsbrei zu verrühren und ihnen ihre kulturelle, geschichtliche oder sprachliche Identität zu nehmen. Er wollte nur den die Nation instrumentalisierenden Nationalismus brechen, durch die Privatisierung des Nationalen: "Jeder Kulturmensch muss daran arbeiten, dass, wie heute die Religion, morgen die Nation zur Privatsache jedes Menschen wird. Die künftige Trennung von Nation und Staat wird eine ebenso große Kulturtat sein wie die Trennung von Kirche und Staat.". Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten große christliche Staatsmänner die Vision des Paneuropa-Gründers verwirklichen. Einer von ihnen war Robert Schuman, der den Bezug der Europa-Idee zu den Werten von Freiheit und Gerechtigkeit klar sah: "Wir sind dazu aufgerufen, uns auf die christlichen Grundlagen Europas zu besinnen, indem wir ein demokratisches Modell der Herrschaftsausübung aufbauen, das durch Versöhnung eine Gemeinschaft der Völker in Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden entstehen läßt, das zutiefst in den christlichen Grundwerten verwurzelt ist.". Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, können wir zweifelsfrei feststellen, dass die Überwindung des Nationalismus durch den europäischen Gedanken der Freiheit und Gerechtigkeit zwischen und in den europäischen Nationen gedient – nicht geschadet – hat. Die bevorstehende Osterweiterung hat den eigentlichen Sinn, den im Westen Europas geschaffenen Raum der Freiheit, des Rechts und des Friedens auf den ganzen Erdteil auszudehnen.
  2. Der Liberalismus, der sich im 19. Jahrhundert mit dem Nationalismus paarte (wie sich auch später der Nationalismus mit dem Sozialismus, wieder später der Sozialismus mit dem Liberalismus paarte) hat seinen Ursprung im Schrei des Individuums nach Befreiung. Die Sehnsucht des Menschen, die Schranken und Zwänge der Natur, der Gesellschaft, der eigenen Begrenztheit und des Schicksals zu überwinden, brachte eine individualistische Ideologie hervor. Um der Autarkie des Individuums willen warf der Liberalismus weitestgehend alles über Bord, was für den einzelnen Bindung beinhalten oder als Zwang interpretiert werden konnte: die Metaphysik, die Religion, die gesellschaftlichen Tabus, die Familie, das gemeinsame moralische Fundament und die Verbindlichkeit beanspruchenden Werte. Nicht nur die alles Verpflichtende verneinenden und bekämpfenden Anarcho-Wellen der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern auch die Fortschrittsgläubigkeit der Gegenwart hat darin ihre Wurzel. Der von Gott und seinen Geboten, von Schöpfungsordnung und Naturgesetz losgelöste Mensch macht sich die Erde grenzenlos untertan. Was sollte einen dieser Ideologie huldigenden Politiker abhalten, im Reagenzglas gezeugte Embryonen zu entsorgen oder für die Forschung freizugeben? Was sollte ihn hindern, vermeintlich diskriminierende Bestimmungen wie das Tötungsverbot im Namen der Freiheit einzuschränken, und damit Abtreibung und Euthanasie den Weg zu bahnen? Die paradiesische Versuchung des Menschen, wie Gott sein zu wollen, durchzieht die Geschichte des Menschen und begegnet uns in immer neuem Gewand – heute etwa in dem der Biomedizin und Gentechnologie. Weil der Mensch aber nicht Gott ist und ihn bereits die Anmaßung, es sein zu sollen oder zu wollen, überfordert, sind die gesellschaftlichen Folgen unübersehbar: Psychiater haben Hochkonjunktur, die Zerrüttung der Familien ist dramatisch, Jugend- und Kinderkriminalität sind erschreckend, die sexuellen Abartigkeiten nehmen ebenso zu wie die Verlotterung des Rechtsstaates.
  3. Liberalismus und Sozialismus sind die beiden unterschiedlichen Sichtweisen, die aus dem selben unzulänglichen Menschenbild entstehen: Beide sehen den Menschen als Sandkorn im Sandhaufen – nur preist der Liberalismus das Sandkorn, der Sozialismus den Haufen. Der radikale Individualismus provozierte notwendigerweise einen uniformierenden Kollektivismus. Dessen Schrecken haben wir vor allem in der Gestalt des Kommunismus in den zurückliegenden Jahrzehnten durchlitten. Die im Namen der Gleichheit angetretene kommunistische Bewegung mißachtete nicht nur radikal die Freiheit der Person und ihre Würde, sondern schuf auch ein System extremster Ungleichheit.

Wenn also weder Nationalismus noch Liberalismus noch Sozialismus in Europa zu einem Zugewinn an Freiheit und Gerechtigkeit geführt haben, dann gilt es neu anzusetzen. Coudenhove-Kalergi hatte wohl den grundlegendsten Irrtum der genannten Ideologien durchschaut, nämlich den Irrtum hinsichtlich des Wesens und der Würde des Menschen. In seinem gegen Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus verfassten Buch "Totaler Staat – Totaler Mensch" schrieb er: "Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Der Staat ist ein Geschöpf des Menschen. Darum ist der Staat um des Menschen willen da – und nicht der Mensch um des Staates willen. Menschen ohne Staaten sind denkbar – Staaten ohne Menschen sind undenkbar. Der Mensch ist ein Ziel: kein Mittel. Der Staat ist ein Mittel: kein Ziel.". Das Problematische an den drei skizzierten Ideologien ist, dass sie den Menschen klein machen: Sie reduzieren ihn zu einer Funktion in und für die Nation, die Klasse, den Staat, die Ideologie.

Wer einer freieren und gerechteren gesellschaftlichen Ordnung den Weg bereiten will, muss bei jener Frage neu ansetzen, die – entgegen der allgemeinen Liberalisierung – zu einem Tabu gemacht worden ist: bei der Frage nach der Wahrheit. Nicht Meinung, sondern Wahrheit sollte die eigentlich gemeinschaftsstiftende Größe unter vernunftbegabten Wesen sein. Wahrheit als das allen gleichermassen Vorgegebene bildet auch das allen verbindliche Maß. Nur hier kann die Grundlage für Gerechtigkeit zu finden sein, die mehr ist als eine umfangreiche und gut sortierte Sammlung von Gesetzen. Wahrheit aber ist aller menschlichen Machbarkeit entzogen; sie kann vom Menschen nicht geschaffen, sondern nur erkannt und anerkannt werden.

Den Unterschied zwischen Recht (im objektiven Sinn) und den Gesetzen (als dem gesetzten Recht) umschreibt Cicero so: "Wenn das Recht durch Volksbeschlüsse, Erlasse der Fürsten oder Entscheidungen von Richtern begründet würde, dann wäre es Recht zu rauben, Recht, Ehebruch zu begehen, Recht, falsche Testamente zu unterschreiben, wenn das durch Abstimmungen oder Verordnungen der Menge gutgeheissen würde." Cicero folgert, dass Gesetze nur dann gerecht sein können, wenn sie mit der Norm der Natur in Einklang stehen. Der Philosoph und Staatsmann Lucius Annaeus Seneca, der Erzieher Kaiser Neros war und später Opfer von dessen Tyrannei wurde, prägte das Wort, Staaten ohne Gerechtigkeit seien ins Unabsehbare gewachsene Räuberbanden. Ganz ähnlich argumentiert der heilige Augustinus: "Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche.".

Entscheidend ist, was den Staat qualitativ, nicht nur quantitativ, von der wohlorganisierten Räuberbande unterscheidet. Die von Augustinus gegebene Antwort darauf lautet: Gerechtigkeit. Den Staat – der schon angesichts der modernen Steuersysteme dem Bürger oft in Gestalt einer Räuberbande entgegentritt - unterscheidet von der Räuberbande nur ein über Gruppeninteressen und Mehrheitsmeinungen hinausgehender universeller Massstab: die Orientierung an der Gerechtigkeit. Ein Staat, der die Meinung und das Interesse einer Partei, einer Klasse, einer Rasse oder auch der blossen Mehrheit zum absoluten Kriterium macht, degeneriert zur Räuberbande. Dieser aber braucht der Bürger in jedem Fall keine Loyalität mehr entgegenzubringen; unter bestimmten Voraussetzungen kann sogar aktiver Widerstand gegen einen derart degenerierten Staat berechtigt oder sogar sittlich geboten sein. Man erinnere sich an die heikle, doch weiter aufrechte Lehre der katholischen Kirche vom Recht auf Tyrannenmord, die schon Thomas von Aquin dargelegt hat. Die Räuberbande kann strafen, aber sie kann nicht im Gewissen verpflichten; sie kann den einzelnen oder eine Minderheit der Freiheit berauben oder sie töten, aber sie kann keine moralische Autorität beanspruchen.

Wie aber können wir nach der Überwindung der Irrlichter zu einer freieren und gerechteren Gesellschaft finden? Ich möchte darauf antworten mit jenem Wort des heiligen Augustinus, das Richard Coudenhove-Kalergi zum Motto seiner Paneuropa-Bewegung gemacht hat: IN NECESSARIIS UNITAS – IN DUBIIS LIBERTAS – IN OMNIBUS CARITAS.

  1. "Im Notwendigen: Einigkeit" statt einer gleichförmigen, uniformisierten und monolithischen Gesellschaft. Das vereinte Europa soll in der Vielfalt seiner Völker und Volksgruppen den Reichtum dieses Erdteils entdecken, anstatt die Lebensstile, Individualitäten und Verhaltensweisen zu normieren. Nicht die Gleichheit, sondern die bunte Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen, Völker und Kulturen ist das Ideal. "In necessariis unitas" ist ein anderer Ausdruck für "Subsidiarität", weil hier Einigkeit nicht in allem, sondern eben nur im je Notwendigen gefordert wird.
  2. "Im Zweifel: Freiheit" statt des sich autonom wähnenden modernen Menschen, der alles Machbare auch für wünschbar und alles Wünschbare auch für gut hält. Die Zusage Jesu Christi an seine Jünger, "Veritas liberabit vos!", könnte das Leitwort einer christlichen Liberalität sein, in der sich der Mensch gerade deshalb frei weiß, weil er Geschöpf, Ebenbild und Kind Gottes ist.
  3. "In allem die Liebe", die dem unaufhörlichen Streben nach der Gerechtigkeit ihren letzten Sinn gibt. Wo "caritas" dem konkreten, realen Menschen gilt, hört Gerechtigkeit auf, ein Abstraktum zu bleiben. So mündet die Frage nach den Werten in die viel konkretere, die eigentlichere Frage, nämlich in die Frage nach dem Menschen und seiner Würde. Über die Würde des Menschen kann man aber nur dann sinnvoll reden, wenn damit die Würde eines jeden Menschen gemeint ist.

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